Outback Literatur

Hans Jürgen von der Wense



Auch die Geschichte und Hinterlassenschaft von
Hans Jürgen von der Wense
werden wir versuchen weiter zu durchdringen.
Erstaunlicherweise hat sich hier in unmittelbarer Nähe ein Kontakt ergeben,
der sich in das Wenseversum bereits viel weiter vorgearbeitet hat als ich.
Hier hoffe ich auf interessanten input.


Zur Auffrischung hier noch einmal einige Bilder und Zitate:




»Sie fragen mich, wer ich sei.
Ich will es Ihnen ganz offen sagen:
 ich bin nichts, garnichts.
 Ich bin nur ein Dichter
 und das heisst ein Mensch
und das heisst ein Rebell!

 Ich habe nie etwas gelernt,
nie etwas dauernd verdient,
 niemals Steuern gezahlt,
 habe auch, obwohl ich ein Deutscher bin,
 keinerlei Titel –
 man nennt oder schimpft mich einen Privatgelehrten:
 das letzte Exemplar dieser heute ausgestorbenen Gattung,
 also ein Fabeltier

 die Wahrheit ist,
dass ich ein Mensch bin,
 der in seiner Zeit keinen Raum findet
 und der sehn muss,
wie er unter verschiedenen Masken davonkommt«

zitiert bei Niehoff/Bertoncini 2005, S. 9


"Wer wandert, der nimmt wahr!" Hans Jürgen von der Wense (1894–1966) war Schriftsteller, Komponist, Übersetzer aus über 100 Sprachen und Dialekten und leidenschaftlicher Wanderer!

Zigtausende Kilometer legte er zu Fuß zurück. Besonders die Region zwischen Nordhessen, Ostwestfalen und Sauerland sowie dem südlichen Teil Niedersachsens hatte es ihm angetan.

Er strebte in seinen fragmentarischen Texten eine Art "Weltmitschrift" an: Das Wandern spielte dabei eine exponierte Rolle und war für Wense Inbegriff von Freiheit und Welterfahrung, die Landschaft ein philosophisches Erlebnis.

Er hat ein riesiges Werk ungeordnet hinterlassen. Aus fragmentarischen Splittern hat Ruth Johanna Benrath ein Hörspiel kreiert, das ich allen Wander-, Denk- und Naturfreunden als poetische Bereicherung beim Gehen empfehle. Hier der Link:


Runterladen und beim Wandern hören !









Er machte sich Gedanken zu allem was er wahrnahm...



so z.B. zum Thema:

Barre


"Im Fluge über die Umgebung von Göttingen nach der Karte von Deppe.
Der Raum von Göttingen, wie ihn die Karte darstellt, umfasst ganz und gar verschiedene Landschaften.

Mitten quer durch die Karte, das Leinetal, ist das Mittelstück der grossen Störungslinie Oslo - Basel. Es ist eine Zerrung in der Erdrinde. Oder ein Graben.
Hier nämlich bei Witzenhausen ist eine Barre, ein Pass, ein geografisch in Deutschland sehr wichtiger Punkt.

Es ist der jähe Übergang von Norden nach Süden, die Landschaft verändert sich auf einmal unerhört stark, es ist im kleinen so, wie wenn man aus einem der Alpentunnel nach Italien kommt. Die Bahn macht eine Kurve und plötzlich erscheinen dir hier die grossen kompakten Vulkane. Nach der norddeutschen Einstimmigkeit, kommen wir hier in eine Landschaft von Kontrapunkt und Dissonanz." Zitat aus den Fragmenten



Geologische Recherchen zu diesem Gebiet ergaben, dass Wense damit wohl den heute sogenannten Leinetal- Graben oder Achse gemeint hat, der wiederum Teil einer Bruchzone in der kontinentalen Erdkruste ist, die vom Mjøsa See in Norwegen bis zum Mittelmeer reicht.




Kann ein solche Bruchzone zugleich auch eine Kulturscheide sein?

Zumindest in ost - westlicher Richtung verläuft durch unseren Outback
die sog. Benrather Linie, die eine Abgrenzung der Dialekte und Sprachausformung definiert: z.B. nördlich davon sagt man "maken" südlich davon "machen".

Ist dies eines der Merkmale der von Wense verorteten Kulturscheide?

Wir versuchen noch immer Kontakt mit dem Wense Archiv in Kassel aufzunehmen, um seine Fragmente systematischer nach seinen Beobachtungen in unserem Outback zu durchsuchen.

Wense im Outback


Foto: Hedy Esche

Ergänzende Überlegungen eines hobby Historikers:

Weitere Indizien für eine kulturelle Scheide oder Bruchlinie quer durch unseren Outback ist, dass der Meissner die Grenze zwischen den germanischen Stämmen der Chatten (im späteren Hessen) und den Hermunduren (im späteren Thüringen) bildete. Lange Zeit verlief hier auch die nördliche Grenze des römischen Reiches. Und nicht zuletzt trennte hier der Eiserne Vorhang die Welt in zwei feindliche Lager.

Auch verlief hier die Grenze des keltschen Kultur Einflusses, - so war z.B. die Boyneburg
bei Sontra in vorchristlicher Zeit die nördlichste "Keltenburg", sie sollte wohl den Salztransport von Bad Sooden-Allendorf in keltisches Gebiet (Glauberg) sichern.
Im frühen Mittelalter, nach 1144 wurde sie Reichsburg.
Danach war Kaiser Barbarossa mehrmals auf der Burg.
Ihre strategisch günstige Lage (zwischen Wetterau, Nordharz und Thüringen) machte sie damals zu einem wichtigen Stützpunkt.



Auch der Fakt, dass sich hier zwei bedeutende Flüsse vereinen und ab hier als Weser gen Norden fliessen, dürfte eine Rolle bei der kulturellen Prägung der jeweiligen Bewohner gespielt haben, über die Dialekte hinaus.







Hans Jürgen von der Wense
der Landversteher:



Obige Karte zeigt eine von Wenses Zeichnungen.
Eine Karte auf Basis der Messtischblätter, die er immer vorbereitete und dann genau danach wanderte. Es zeigt den Verlauf der alten Handelswege durch Ostfalen und Nordhessen, unserem Outback. Dabei können wir uns sicher sein, dass er jeden einzelnen dieser Wege gegangen ist.

Während der Nazi Zeit war er sowohl als Pazifist als auch Homosexueller besonders gefährdet. So wurde aus dem Wanderer ein Landvermesser. Diese Tarnung und der Umstand, dass er ständig den Wohnsitz wechselte, bewahrte ihn vor einem erneuten Kriegseinsatz.
Erst 2 Jahre vor Kriegsende wurde er "eingezogen" und arbeitete bei den Physikalischen Werkstätten in Kassel.




Zur Systematik seines Schreibens und Sammelns schrieb Wense:

Ich ordne es alphabetisch, nach Stichworten und bringe (von Aas bis Zylinder) die erlesensten, erpichtesten Stücke aus allen Zeiten und Zonen, nur oder fast nur Ignota und Rara und in meiner Übertragung oder doch Fassung mit strengsachlichen Kommentaren und erschließe so ganze weltweite Gelände des Geistes, eine Herausforderung für unsere von Hochmut auf Engtaille eingelaufene Zeit, aber nicht nur Weisheit u. Poesie, wesentlich auch Dokumente, politische, juridische und intime, ein Querschnitt durch das Gesamtsein der Menschheit.

Ich habe schon einen starken Batzen, das ganze auf 1000–2000 Seiten Dünndruck, so Grille: einen hinreißenden Bericht von Carducci über den Grillengesang in Toscana (Werke Bd. 20, 461-92), in italiänischem Text mit meiner Übersetzung, bei Ohrenschmalz ein bezauberndes Negermärchen, bei Vulkanausbruch eine Kanzone von Camõens in portugiesisch mit wörtlicher Übertragung, dann neben etwa 2/5 meiner ganzen Arbeiten – 3/5 fallen – viel irisches, besonders 6., 8. und 17. Jahrhundert, koreanisches, mordwinisches – jedes Mal genaue Kommentare mit Geschichten und Literargeschichten dieser Völker, z. T. überhaupt noch nicht geschrieben, bei Brücke Inschriften auf Brücken in Brusa (Anatolien), türkisch u. deutsch in Versen und ebensolche in Island (aber von 1954!); viel Thoreau (den geliebten amerikanischen Klassiker), und Merovinger-Rechte, Mellin de Saint-Gelais u. Tourisonne, entzückendste Poesie von 1500, völlig vergessen, viele Dokumente der spanischen Ommajaden, lebende fârôische Dichter, über 8000 afrikanische Sprüche, Volkslieder aus Palästina oder Sibirien mit eingeschriebenen Melodien, „Konfuzius“ in Zeichen, wörtlich und Nachdichtung, ebenso Lau Dan etc., um dem Wahnsinn der „Übersetzungen“ ein Ende zu machen, sehr viele Wissenschaft: Mathematik von den Indern bis Hilbert, von Gogol nur seine Aphorismen über Hochhäuser, alle heute bei den „Intellektuellen“ (die morgen so lächerlich sind wie uns heute die von 1890) berühmten Größen fallen völlig aus, dagegen erheben sich UNGEHEURE Dichter wie Lenin (aus Wales; † 1572), Abu al-ibn-Anāf, Papst Pius XIII., dessen Hymnen auf das Streichholz und den Photoapparat ich ebenso aufnahm wie die lateinischen Oden des 1907 verstorbenen Schweizers Essiva auf die elektrische Eisenbahn – das Geheimnis aber ist: dies Werk hat eine unmerkliche Tiefenlinie und Ethik, verführt mit jedem Bei-Spiel den Leser hinaus aus seiner Zeitgeist-Öde ins ewig-Unermessene als ein Ja über jedem Ja.

Ich sage: Lest nicht die Times, lest die Ewigkeiten!

„[...] ich bin kein schriftsteller, kein literat, kein dichter, kein gelehrter, kein musicus, vielmehr nichts als ein mensch, d. h. philosoph, ein rebell!“

Obige Zitate aus; Von Aas bis Zylinder. Werke. Das Briefwerk. Hgg. Reiner Niehoff und Valeska Bertoncini. 2 Bde. Zweitausendeins, Frankfurt 2005, ISBN 3-86150-636-X


Soweit O Ton Wense.

Weil mich Wense, in seiner chaotischen Komplexität fasziniert, widme ich ihm diese Artikelserie. Vielleicht auch weil ich mich in ihm gespiegelt sehe und wiedererkenne.